Foto: © Elif Kücük

Moshtari Hilal fordert die Sehgewohnheiten ihres Publikums heraus. Sie zeichnet Gesichter, die nicht zu den medial geprägten Schönheitsidealen passen: mit großen Nasen und Behaarung. Mit welchen Bildern wir uns tagtäglich umgeben, damit setzte Moshtari Hilal sich früh selbst auseinander, da sie sich in ihrer Jugend nicht in den medialen Bildern wiederfand. Schönheit liege nämlich nicht im Auge des Betrachters.

Mittlerweile zeichnet Moshtari Hilal genau die jungen Frauen, die in den meisten Zeitschriften nicht auftauchen. Als ausschließlich identitätspolitisch will sie sich und ihre Kunst aber nicht verstanden wissen. Vor allem Haare sind für Moshtari Hilal die Gelegenheit, sich in dem Stilmittel auszuprobieren, das sie auszeichnet: Die schwarze Linie.

Das Gespräch im Wortlaut

Ich bin Azadê Peşmen und das ist Untold Stories ein Podcast über marginalisierte künstlerische Perspektiven und Praktiken. Und wie diese in der visuellen Kunst aussehen, zeigt Moshtari Hilal. Sie hat mir erklärt, was sie unter radikaler Subjektivität versteht und warum ihr die schwarze Linie so wichtig ist. Zuerst haben wir aber darüber gesprochen, wie visuelle Kunst mit visueller Kommunikation zusammenhängt.

 

Azadê Peşmen: Wenn man visuelle Kunst in die Suchmaschine des Vertrauens eingibt, dann kommt man relativ schnell auf visuelle Kommunikation. Was kommunizierst du mit deinen Illustrationen?

 

Moshtari Hilal: Also ich finde, visuelle Kunst und visuelle Kommunikation liegen sehr nah beieinander und deshalb beschäftige ich mich auch mit unseren Sehgewohnheiten in der visuellen Kommunikation in den Medien. Ich denke, dass die Bilder, die wir mittlerweile in der Popkultur, im Fernsehen, in den Nachrichten, Zeitschriften, Filmen und so weiter konsumieren, womöglich noch einflussreicher sind als das, was wir als visuelle Kunst oder Hochkultur in den Galerien und Museen hängen sehen. Und ich beschäftige mich genau damit: mit den Sehgewohnheiten. Und wie die Sehgewohnheiten unser Selbstbild oder auch das Bild, was wir von anderen Menschen haben, mitprägen und dadurch vielleicht auch unser Verhalten.

 

Azadê Peşmen: Inwiefern unser Verhalten?

 

Moshtari Hilal: Schönheitsideale und was machen Schönheitsideale mit uns. Wie entwickelt sich unsere Persönlichkeit, unsere Beziehung zu unserem Körper, zu anderen Menschen, vielleicht sogar unser Selbstbewusstsein, Sexualität – all diese Dinge, die mit dem Aussehen zu tun haben, wie entwickeln sie sich oder entwickeln sie sich nicht, weil wir bestimmten Schönheitsidealen entsprechen oder auch nicht. Und ich glaube, dass diese Dinge gar nicht so zufällig sind oder wie oft gesagt wird, "im Auge des Betrachters liegen"– also Schönheit liegt meiner Meinung nach nicht im Auge des Betrachters –, sondern das Resultat sind von vordefinierten Konzepten, von Sozialisierung, aber auch politischen Entwicklungen, die mit bestimmten kulturellen Konstellationen zusammenhängen, die mächtiger sind als andere und den anderen ihre Bilder aufzwingen. Oder machtvoll oder reich genug sind, diese vermehrt zu produzieren, sodass wir, obwohl sie vielleicht nichts mit uns zu tun haben, sie eher für unsere alltägliche Realität halten als unsere alltägliche Realität. Also all diese Themen hängen für mich mit Schönheitsidealen und Sehgewohnheiten zusammen.

 

Azadê Peşmen: Die Bilder, die du produzierst, da ist mir aufgefallen, dass zwei Motive sehr oft vorkommen. Das eine ist „Gesichter“ und das zweite ist „Haare“.

 

Moshtari Hilal: Genau, das ist wahrscheinlich sehr autobiografisch bedingt, dass mich diese zwei Themen sehr beschäftigt haben. Es gibt in der feministischen Kunst, die wir vielleicht seit den 80ern oder 70ern beobachten, sehr viel Auseinandersetzung mit Körpern. In den Medien, finde ich auch, dass wir mittlerweile sehr viel über Repräsentation, also über Hautfarbe, über Geschlecht und Körperformen sprechen. Aber mir ist aufgefallen, dass die Typographie des Gesichtes oft nicht thematisiert wird. Also selbst wenn wir uns jetzt ein Vogue Cover angucken, das Diversity repräsentiert, und da sind Models mit verschiedenen Körperformen und verschiedenen Hautfarben, haben sie alle ein sehr symmetrisches Gesicht, ein an Puppen angelehntes Profil. Bestimmte Dinge sehen wir gar nicht, wie zum Beispiel große Nasen oder Gesichtsbehaarung. Das waren die zwei Elemente, die mich sehr geprägt haben, weil ich zum Beispiel eine große Nase habe und weil ich schwarze Haare habe und dadurch immer anders aussah als die Frauen in unseren Medien. Das habe ich als Ausgangspunkt gesehen, um mich damit zu beschäftigen. Aber natürlich kann man das noch viel komplexer und größer betrachten.

 

Azadê Peşmen: Haare eignen sich ja auch besonders gut zum Zeichnen, zumindest, wenn ich mir so deine Technik angucke. Du arbeitest sehr viel mit Linien.

 

Moshtari Hilal: Genau. Also, ich habe selbst nicht Kunst studiert. Meine Zeichnungen waren sehr persönlich. Zeichnen war für mich immer ein sehr persönlicher Prozess, um mich mit visueller Kultur und Sehgewohnheiten auseinanderzusetzen. Natürlich beginnt man dann erst mit Illustrationen und irgendwie entwickelt sich das alles weiter. Ich bin gerade jetzt in meiner Arbeit an dem Punkt angelangt, an dem ich meine Zeichnungen oder die Selbstporträts, mit denen ich begonnen habe, zu einer eigenständigen Ästhetik, aber auch einer eigenen visuellen Sprache weiterentwickeln möchte. Mittlerweile sind bei mir Stil und Inhalt nicht mehr zu trennen: also dass die Haare, die inhaltlich bei mir Thema waren, meinen Stil komplett prägen. Das schwarze Haar wurde zur schwarzen Linie. Und gerade ist das so mein Thema: die schwarze Linie.

 

Azadê Peşmen: Ich habe auch gar keine Bilder gefunden, die bei dir in Farbe waren. Das ist bei dir eigentlich immer schwarz-weiß, oder?

 

Moshtari Hilal: Ich habe schon versucht, auch mit Farbe zu arbeiten, aber es ist so wie mein Kleidungsstil: Ich fühle mich einfach wohler mit minimalistischen und in schwarz-weiß gehaltenen Arbeiten oder Kleidung.

 

Azadê Peşmen: Gerade ist ja auch deine erste eigene Ausstellung zu Ende gegangen in Hamburg. Die hatte den Titel: Der Winkel eines Phallus entspricht dem Winkel einer Nase. Wie kommt man zu dieser Erkenntnis?

 

Moshtari Hilal: Ja, das ist ein sehr interessanter Titel. Viele haben den auf Anhieb nicht verstanden. Aber genau das war vielleicht auch die Absicht. Dass es ein bisschen zum Denken anregt, leicht ironisch ist, wie so eine mathematische Formel, wie so ein Satz des Pythagoras daherkommt. Also für mich steht der Phallus – auch nicht nur für mich, sondern in der Kunsttheorie oder Kunstgeschichte spricht man immer von dem phallischen Blick oder der phallischen Form – für mich ist das so ein bisschen gleichzusetzen mit dem „male gaze“ (männlichen Blick) oder der männlichen Perspektive, Interpretation der Welt und der Realität. Aber in dem Fall von Ästhetik. Also an die Stelle des Phallus setze ich die Nase und die Nase ist für mich ein Symbol für meine Ästhetik. Die Nase und die schwarzen Haare. Und ich stelle die Nase an die Stelle des Phallus und mache mich dadurch nicht nur zur Künstlerin, sondern ich bin auch meine eigene Muse. Es gibt weder den männlichen Künstler, noch gibt es den männlichen Blick. Und es gibt auch nicht den Frauenkörper als Objekt, sondern alles ist Subjekt. Also diese ganzen theoretischen Hintergedanken stehen hinter diesem Titel.

 

Azadê Peşmen: Und die Nase ist erstmal ohne Geschlecht, oder?

 

Moshtari Hilal: Genau. Und das fand ich eigentlich auch sehr erfrischend. Weil wir ja oft von Vulva sprechen, was ja genauso exklusiv ist wie ein Penis. Und eine Nase hat, naja vielleicht nicht jeder, aber schon die meisten Menschen.

 

Azadê Peşmen: Du hast gerade von dem male gaze gesprochen, also diesem männlichen Blick. Wie wirkt der sich auf Ästhetik aus in der visuellen Kunst?

Moshtari Hilal: Wenn wir jetzt in Museen gehen, gibt es natürlich sehr viele Porträts von Frauen. Es ist nicht so, dass Frauen nicht repräsentiert sind in den Museen oder in der visuellen Kunst, aber sie sind stark sexualisiert und sie treten hauptsächlich in verführerischer Form auf. Wenn ich mich mit mir selbst oder mit meiner Mutter oder meinen Schwestern auseinandersetze, da ist nicht die Frage nach Anziehung oder sexueller Anziehung (zentral), sondern ich möchte eine andere Form von Ästhetik, die vielleicht nicht unbedingt mit der Geschlechtlichkeit oder Attraktivität zusammenhängt, abbilden. Eine Art Persönlichkeit oder Ästhetik, die sich über Dinge definiert, die wir vielleicht auch nicht sofort als Schönheit erkennen. Ästhetik ist ein größerer Begriff als Schönheit. Also ich beschäftige mich eher mit Ästhetik als mit Schönheit.

 

Azadê Peşmen: Worin liegt da der Unterschied?

 

Moshtari Hilal: Es kann widersprüchliche Ästhetiken geben und Ästhetik hat oft eine innere Logik, die vielleicht in einem bestimmten Kontext Sinn ergibt, in einem anderen nicht. Natürlich kann Ästhetik genauso politisch sein, aber für mich bietet Ästhetik einen philosophischeren Zugang, als wenn wir von Schönheit sprechen. Schönheit ist für mich so stark mit Schönheitsidealen und der Schönheitsindustrie, auch mit so einem zivilisatorischen Verständnis von Frausein, Mannsein, Menschsein, verbunden. Da trenne ich für mich.

 

Azadê Peşmen: Du versuchst ja auch in deinen Illustrationen Gesichter oder Menschen zu zeichnen, die  eben nicht in diese gängigen Schönheitsideale reinpassen. Hast du darauf auch mal negative Reaktionen bekommen?

 

Moshtari Hilal: Ich muss sagen, ich habe eigentlich noch gar keine richtig negativen Reaktionen darauf erhalten. Manchmal gibt es auf Instagram Leute, die unter einer Zeichnung kommentieren "Haha, wie witzig, diese Person hat einen Damenbart“ oder "Haha, wie witzig, sie ist haarig".

 

Azadê Peşmen: Was machst du dann? Reagierst du darauf?

 

Moshtari Hilal: Das hat mittlerweile stark abgenommen. Also ich muss mich gar nicht mehr damit auseinandersetzen. Vielleicht hat sich mein Algorithmus oder Profil so sehr geschärft, dass wir uns gar nicht mehr überschneiden, aber zu Beginn… Ich denke, ich bin ja auch kein öffentlicher oder staatlicher Raum, ich wende da durchaus auch Zensur an. Wenn ich einfach nicht den Raum öffnen möchte für so flache Diskussionen.

 

Azadê Peşmen: Das hat dann wahrscheinlich auch damit zu tun, dass, wenn das ein autobiografisches Thema ist, du wahrscheinlich solche Sachen schonmal gehört hast, oder?

 

Moshtari Hilal: Genau. Für mich klingen sie stark pubertär. Vielleicht auch, weil mich die Kommentare an Situationen erinnern, die ich in meiner Pubertät durchlebt habe mit Menschen, die in dem Alter waren. Man erhofft sich natürlich ab einem bestimmten Punkt das hinter sich zu lassen und dass Menschen irgendwann offener sind und man dann offener über die Themen sprechen kann. Das ist tatsächlich nicht so, aber ich möchte mich dann auch nicht wieder auf das pubertäre Niveau bei Diskussionen einlassen, weil man sich dann im Kreis bewegt. Ich bin an einem Punkt, wo ich diese ganze Arbeit zu einer visuellen Sprache, zu einer Ästhetik weiterentwickeln möchte. Und da möchte ich nicht noch erklären, warum Armhaare durchaus normal sind bei einem Mädchen. Das ist für mich ein Schritt zurück und ich stehe mittlerweile drüber. Und ich glaube auch, dass es viel mächtiger ist, wenn man Dinge einfach tut, als die ganze Zeit darüber zu sprechen.

 

Azadê Peşmen: Ein anderes Motiv, was sich bei dir in einem Bild gesehen habe: Da waren ein paar Männer, die eine Art Turban auf dem Kopf hatten, und der eine hat ein Tablett getragen mit einer Kanne Tee, und die hatten auch diese weiten Hosen an – Sirwal – auf Deutsch sagt man ja meistens Pluderhosen. Alles in allem war das schon ein bisschen ein 1001 Nacht Motiv. Daran hat mich das erinnert. Machst du das bewusst, dass du diese Motive wählst?

 

Moshtari Hilal: Also ich komme ja aus der Illustration und das sind so Illustrations-Auftragsarbeiten und in dem Fall war das angelehnt an persisch-mythologische Teppichmuster und das hatte sich ein Restaurant, das gerade in Dubai von drei afghanischen Frauen eröffnet wurde, gewünscht. Das sind dann auch Dinge, die ich nicht im Museum ausstellen würde. Das sind flache Illustrationen. Es macht Spaß, diese Illustrationen zu zeichnen, aber die laden natürlich nicht ein, tiefer einzutauchen. Weil sie eine Reproduktion sind von Bildern, die man schon kennt. In dem Fall von historischen Bildern. Wenn mich jemand beauftragen würde, Muslime in Deutschland abzubilden, dann würde ich nicht mit einem Turban und Pluderhosen kommen, weil das nicht der Fall ist. Da würde ich diese Menschen orientalisieren. In dem Fall war es ein Rückbezug auf historisches Bildmaterial.

 

Azadê Peşmen: Wenn dich jetzt aber jemand dazu einladen würde, eine Ausstellung zu diesem Thema zu kuratieren, Muslime in Deutschland, würdest du das machen?

 

Moshtari Hilal: Ich habe ja noch den anderen Hintergrund als Islamwissenschaftlerin. Ich habe meinen Bachelor in Islamwissenschaft gemacht und mache auch gerade meinen Master und deshalb bin ich da sehr flexibel. Ich würde nur versuchen, das eine vom anderen zu trennen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dazu zu arbeiten, solange es irgendwie auf einer historischen Grundlage funktioniert. Im Fall "Muslime in Deutschland" würde ich mich nicht als Spezialistin sehen, aber auch da habe ich viel im aktivistischen oder in außerschulischen Bildungsprojekten mitorganisiert, mitgestaltet. Ich würde dann meine Rolle tauschen und je nach dem arbeiten können.

 

Azadê Peşmen: Ich habe die Frage deshalb gestellt, weil es ja auch oft so ist, dass wenn sich Künstler*innen mit einem Thema ein wenig abseits des Mainstreams beschäftigen, sie häufig darauf reduziert werden und dann nur noch bestimmte Anfragen bekommen. In deinem Fall, wenn man das übertragen würde, dann wären das die Schönheitsideale, dann wären das muslimische Frauen, die "anders" aussehen, also mit anders meine ich anders als sie im Mainstream repräsentiert werden. Liegt da so eine Gefahr, dass man dann darauf reduziert wird?

 

Moshtari Hilal: Ja, natürlich. Ich glaube, da liegt es in der Verantwortung der Künstler*innen oder der Personen, die sich mit irgendeinem Thema beschäftigen, eine Abwechslung oder auch eine Komplexität und Vielfältigkeit von Themen zu schaffen, die man dann im Repertoire hat, damit man nicht auf eine Sache reduziert wird. Wenn ich mich jetzt nur noch mit diesem Thema beschäftigen würde für die nächsten 10 Jahre, dann kann ich auch niemandem Vorwürfe machen, wenn ich nur zu dem Thema befragt werde. Aber gleichzeitig denke ich mir, es ist auch wichtig, dass man ein Gleichgewicht findet, zwischen dem, was einen tatsächlich interessiert und was man machen möchte, und dem, was vielleicht als Stereotyp oder Klischee von außen wirken könnte. Natürlich ist es problematisch, wenn ich mich die ganze Zeit von Identitätspolitik und so reduktiven Labels auf der einen Seite distanzieren will und dann aber doch studiert habe zum Thema Islam, Islamwissenschaft, muslimische Gesellschaften. Aber andererseits denke ich mir, wenn es mich interessiert, dann möchte ich dazu arbeiten. Ich möchte aber gleichzeitig die Freiheit haben und auch die Möglichkeit haben, das Bewusstsein dafür haben, dass ich differenzieren kann, wann es vielleicht passt und wann es nicht passt. Genauso zum Thema Biografie: Wenn man Migrationsgeschichte in der Familie hat, muss man permanent darüber sprechen, auch wenn man diese Geschichte nicht selbst erfahren hat, sondern die Eltern oder die Großeltern. Ich denke, manchmal passt es und man spricht darüber, und manchmal ist es einfach aufdringlich und übergriffig von Journalisten oder anderen Personen immer darauf angesprochen zu werden. Ich glaube, wenn es relevant ist für die Arbeit, dann wird man es schon selbst thematisieren und wenn es nicht relevant ist, dann braucht es auch nicht eine dritte Person zu thematisieren.

 

Azadê Peşmen: Ich wollte noch mit dir über ein Zitat sprechen. Und zwar hast du selbst in einem Interview gesagt: Sich selbst ins Zentrum der Arbeit zu stellen, finde ich politisch. Was meinst du damit?

 

Moshtari Hilal: Also was auf jeden Fall Teil meiner Arbeit ist, ist der Ansatz „radikale Subjektivität“. Weil ich gemerkt habe, dass manchmal sich in einen Kanon einfügen oder einer bestimmten Tradition folgen… es gibt ja auch in Fächern Traditionen, genauso wie es in der Kunst eine bestimmte methodische oder ästhetische Tradition gibt… Und manchmal ist es viel vorteilhafter für einen oder macht es auch die eigene Arbeit viel interessanter, wenn man nicht dem folgt, was schon besteht, sondern in sich selbst nach Inspiration sucht, und die Arbeit aus der eigenen Erfahrung und der eigenen Perspektive heraus entwickelt. Denn manchmal, vor allen Dingen bei Menschen, die einer Gruppe angehören, die marginalisiert ist, die nicht repräsentiert wird, ist es politisch, diese Transferleistung zu machen, also die eigene Subjektivität zu artikulieren, zu äußern, weil sie ja noch nie artikuliert wurde oder nicht oft genug oder (weil sie) noch nicht in Institutionen und den Medien präsent ist. Dann macht man es zum einen aus individuellen oder persönlichen Gründen, aber gleichzeitig hat es auch einen politischen oder realen Effekt, weil man dann eine Reichweite hat und sichtbar wird, aber vielleicht auch gleichzeitig andere Menschen inspiriert oder ihnen das Gefühl gibt, auch zu existieren oder auch an bestimmte Orte gelangen zu können, die ähnliche Erfahrungen hatten, aber nicht repräsentiert wurden.

 

Azadê Peşmen: Ist das etwas, was du auch ein bisschen durch deine Arbeit zurück kriegst, also dieses Feedback, dass du andere Menschen inspirierst?

 

Moshtari Hilal: Ja, auf jeden Fall. Vor allem zu Beginn meiner Arbeit war ich ja nur über die sozialen Medien in der Öffentlichkeit und da habe ich unglaublich viele Nachrichten bekommen, auch Kommentare, aber auch persönliche Nachrichten, E-Mails von Menschen, vor allem von jungen Mädchen, jünger oder in meinem Alter, die teilweise sich dafür bedankt haben, dass endlich mal jemand ihnen sagt, sie können so bleiben, wie sie sind, und dass sie nicht so einen Druck haben, sich anpassen zu müssen. Bei meiner Einzelausstellung in Hamburg, da kam einmal eine Gruppe von so fünf, sechs Mädchen von Göttingen angefahren, also die sind nur zur Ausstellung gekommen, und ich meine, wie oft machen das Teenager, das sie zu einer Galerieeröffnung fahren, weil ihnen die Arbeit gefällt. Also ich glaube schon, dass diese persönliche Resonanz, die dann besteht, mir auch Kraft gibt, weiterzumachen. Aber zu meiner Ausstellung kamen auch ein zwei Syrer, die erst seit drei Jahren in Deutschland sind, die meinten, die Ästhetik von den Familienporträts würde sie sehr an ihre eigene Familie erinnern oder an ihre Stadt. Und das ist ja auch interessant, so etwas zu hören. Also dass ich wohl einen visuellen Nerv treffe, der mir selbst nicht bewusst war. Der größer ist als meine eigene Geschichte. Aber gleichzeitig möchte ich natürlich nicht, also ich finde es wichtig, dass wenn man eine Profession hat oder eine Art von Kunst macht, dass man sie nicht nur macht, um Identitätspolitik zu bedienen oder um zu schaffen, dass andere PoCs oder andere Menschen mit einer ähnlichen Biografie Resonanz darin finden. Das schafft man auch durch ein Mode-Fotoshooting. Oder durch eine Serie im Fernsehen. Es muss dann nochmal eine andere Ebene geben, die deine Arbeit auch unabhängig vom Inhalt, unabhängig von deiner persönlichen Note interessant macht für das Genre an sich. Ich glaube, deshalb bin ich auch gerade in dem Prozess, die Frage nach der schwarzen Linie zu stellen. Weil ich dadurch merke, dass ich Arbeiten schaffe, die auch Menschen interessiert, die selbst Kunst machen und sich aber gar nicht inhaltlich mit meiner Arbeit assoziieren können.

 

Azadê Peşmen: Aber geht das so von außen, dass man sich mit deiner Arbeit beschäftigt, ohne den Inhalt so ernst zu nehmen und sich ausschließlich auf die Ästhetik zu konzentrieren?

 

Moshtari Hilal: Ich hoffe, dass das geht. Ich glaube, das ist auch sehr wichtig. Für mich ist Kunst erst dann gelungen, wenn sie sowohl visuell wirkt, als auch inhaltlich etwas bieten kann. Wobei Kunst kann auch ausschließlich visuell wirken, aber für mich ist Kunst die vielleicht eine nette Geschichte hat, aber visuell nicht eigenständig wirken kann, nicht gelungen. Weil es ja schon darum geht, jetzt vor allem bei visueller Kunst, dass man etwas sehen kann, was einen beeindruckt. Und dann kommt erst die Geschichte, falls es eine gibt. Manchmal gibt es Arbeiten, vor allem im Bereich Illustration, oder auch Fotografie, wo sie so sehr versuchen, ein Thema zu bedienen, oder wo sie so sehr versuchen, eine Identität zu bedienen, eine Gruppe anzusprechen, dass das Handwerkliche komplett zur Seite geschoben wird. Und ich finde, wenn nicht beides bedient wird, dann ist es wie Werbung.

 

Azadê Peşmen: Das war Untold Stories mit Moshtari Hilal.

 

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