Jess Thom ist eine britische Performerin, Stand-Up-Comedian, Autorin und die Mitbegründerin von Touretteshero, ihr Alter Ego als Superheldin und zugleich ihre künstlerische Plattform, die sie gemeinsam mit ihrem Team betreut. Tourettesheros erste Produktion „Backstage in Biscuit Land” war ein großer Erfolg und ging international auf Tour. Jess Thom arbeitet auch als Programmgestalterin und hat künstlerische Räume in kulturellen Einrichtungen wie dem Barbican und dem Battersea Arts Centre in London kuratiert. Sie setzt sich aktiv für Relaxed Performances ein. In Berlin führte sie 2018 ihr Theaterstück “Not I” von Samuel Beckett in den Sophiensaelen auf.

Jess Thom hat Tourette, eine neurologische Kondition, die Tics auslöst. Tics sind unfreiwillige, unkontrollierbare und häufig sich wiederholende Laute und Bewegungen, die von einfachen Grimassen bis hin zu vollständigen Sätzen reichen können. Touretteshero wurde gegründet „um die Kreativität und den Humor von Tourette mit einem möglichst breiten Publikum zu feiern und teilen“. Zum Beispiel auf ihrer Webseite: www.touretteshero.com.

In diesem Interview sind die vokalen Tics Teil des Texts und werden mit kleinen Pfeilen wie diesen gekennzeichnet: >biscuit<. Wir haben entschieden, diese Worte nicht zu übersetzen, da sie stark mit der Originalsprache in Verbindung stehen und nicht von inhaltlicher Bedeutung sind. Sie stehen für sich.

 

Relaxed Performances bieten eine entspanntere Atmosphäre als sonst üblich im Theater. Beispielsweise sollte es nicht zu dunkel im Publikumsbereich sein, es ist möglich währenddessen zu kommen und zu gehen und das Publikum darf Geräusche von sich geben. Relaxed Performances machen Kunst zugänglich für diejenigen, denen sonst ein Theaterbesuch vielleicht nicht gefallen würde, wie z.B. jungen Menschen, Autist*innen, Menschen mit Tourette oder Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber sie können für alle anderen genauso angenehm sein.

Diskussion nach der Performance von &quot;Not I&quot;. Der Blick der Kamera geht durch das Publikum auf die Bühne. Links steht die Gebärdensprachdolmetscherin, rechts kniet Jess Thom vor ihrem Rollstuhl. Beide sind in Schwarz gekleidet.

Diskussion nach der Performance von "Not I"

Interview von Carolin Huth und Lisa Scheibner für Diversity Arts Culture
Übersetzung: Melody Makeda Ledwon

 

Carolin Huth: Du hast Kunst studiert und hattest schon immer eine große Leidenschaft für Kunst und Kultur. Wegen deines Tourette war es aber nicht immer leicht für dich, Zugang zu Kunst und Kultur sowie Kunstinstitutionen zu bekommen. Es ist schwierig für dich, den konventionellen Theater- und Museumsregeln zu folgen und deshalb bist du einige Male aus diesen Räumen ausgeschlossen worden. Wie haben diese Erfahrungen deine Beziehung zur Kunst und zu Kunstinstitutionen verändert?

 

Unsichtbare Barrieren

Jess Thom: >biscuit< Als Person mit Tourette, die nicht-normative Geräusche und Bewegungen macht, musste ich feststellen, dass viele der Konventionen in kulturellen Einrichtungen unsichtbare Barrieren für mich schaffen. Beispielweise dass Besucher*innen stillsitzen müssen oder der Saal nach Beginn der Vorstellung nicht mehr verlassen werden darf. Einige dieser Vorstellungen, wie und für wen Kultur Freude bringen soll, bedeuten, dass mein Körper diese Regeln automatisch nicht befolgt. >biscuit< Ich habe etwa das Gefühl, beurteilt zu werden, oder fühle mich diskriminiert oder sehr unwohl, wenn ich in eine Kulturinstitution gehe. >biscuit< Mir Räume als Künstlerin wiederanzueignen und sie zu besetzen war ein Weg, um mich sicherer in diesem Räumen zu fühlen. Aber Menschen sollten nicht eine Performance veranstalten müssen, um sich sicher in einem Theater zu fühlen. Unsere Kunst beschäftigt sich viel damit, die Aufmerksamkeit >biscuit< auf diese unsichtbaren Barrieren zu lenken oder Annahmen in Frage zu stellen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Kunst, die wir zugänglich machen und inklusiv gestalten, bessere Kunst ist. Nur weil ich im Kulturbetrieb arbeite, Theatermacherin bin und öffentlich über meine Erfahrungen spreche, bedeutet das aber nicht unbedingt, dass es leicht für mich ist, zu Performances zu gehen. Um den Arbeitsaufwand gering zu halten, wenn es darum geht zu verhandeln, wie Räume zugänglich für mich gemacht werden können, haben wir eine Publikumsklausel verfasst, die ungefähr so lautet: Das ist, was ich von euch als Künstler*innen brauche, um mich sicher in eurem Publikum zu fühlen. Ich bitte um drei sinnvolle Anpassungen: Ich kann in den Saal rein und aus ihm rausgehen, Mitarbeiter*innen wissen, dass ich komme und kennen Strategien, um auf Menschen zu reagieren, die sich beschweren und es wird eine Ansage an das Publikum gemacht, damit meine Geräusche akzeptiert werden. Einmal bei einer Vorstellung in London mussten wir sechs Stunden E-Mails schreiben und telefonieren bis diese Anpassungen erfolgten. Das ist fast ein ganzer Tag Arbeit, um eine Performance anschauen zu können. Und ich habe die Möglichkeit dazu, ich habe die Sprache, um meine Bedingungen zu kommunizieren – das trifft nicht für alle zu.

 

Sind Sie bereit, mir eine Liste mit Personen zusammenzustellen, die Sie nicht bei Ihrer Performance dabeihaben wollen?

Es wurde viel einfacher als ich bei der Arbeit im Battersea Art Centre begann, eine Vorgehensweise für einen entspannten Veranstaltungsort zu entwickeln [Anmerkung der Redaktion: entspannt im Sinne der Relaxed Performance]. Wir haben uns viel damit beschäftigt, wie eine entspannte Herangehensweise in jeder Performance-Arbeit und jedem Programm verankert werden kann. Statt Totenstille als Norm bei allen Vorstellungen mit nur vereinzelten Relaxed Performances dazwischen vertreten wir die Haltung, dass jede Vorstellung die grundlegenden Kriterien für eine Relaxed Performance erfüllen sollte, außer es gibt einen starken, kreativen Beweggrund der dagegen spricht. Die Performance ist dann zugänglich für Menschen, die diese sonst nicht hätten erleben können und es entstehen auch Vorteile für das restliche Publikum in Bezug darauf, wie wohl sich Personen generell fühlen. Manche glauben, dass Anarchie herrscht, wenn die Verhaltensregeln im Theater gelockert werden. Und einige kämpfen dafür, diese Regeln aufrecht zu halten. Aber es geht eigentlich darum, mehr Menschen Zugang zu verschaffen und die Theatererfahrung für unterschiedliche Körper und Psychen zu öffnen. Ich finde es schwierig, wenn Spielstätten nicht offen für Relaxed Performances sind. Die möchte ich fragen: Sind Sie bereit mir eine Liste mit Personen zusammenzustellen, die Sie nicht bei Ihrer Performance dabeihaben wollen? Wenn Sie gegen eine Relaxed Performance sind, dann sind Sie dagegen, dass ich mir Ihre Arbeiten anschaue. Wen gibt es sonst noch, der sich Ihre Kunst nicht anschauen soll?

 

Bei barrierefreien Vorstellungen geht es um Gleichstellung, nicht um Wohltätigkeit

Menschen, die Relaxed Performances, untertitelte Performances, Performances mit Gebärdensprachverdolmetschung nicht brauchen, sind oft ein wenig skeptisch, da sie befürchten, dass dadurch ihr Theatererlebnis verdorben wird oder ein Gefühl von „Wir können da nicht hingehen, weil wir einer Person den Platz wegnehmen, die ihn braucht“ entsteht. Ich wünsche mir, dass Relaxed Performances so regelmäßig stattfinden, dass Theatermacher*innen und Publikum sehr vertraut damit werden und verstehen, dass Relaxed Performances keine massiven Auswirkungen auf ihr Theatererlebnis haben. Ich würde gerne mehr Vorstellungen sehen, bei denen Zugangsbedingungen mitgedacht werden. Ich hoffe, dass wir uns davon distanzieren, Relaxed Performances als etwas Schönes für behinderte Menschen zu sehen und dahin kommen, sie als eine wesentliche Gleichstellungsmaßnahme zu verstehen und als etwas, wo es um die Diversifizierung und Weiterentwicklung des Publikums geht. In einer Zeit, in der Theaterhäuser um Publikum ringen, sich öffnen und Behinderung als eine Bereicherung erkennen, hoffe ich, dass diese Haltung sich weiterverbreitet und stärker wird. Die Veränderung dahingehend ist langsam und das frustriert mich. Es reicht nicht aus zu wissen, was eine Relaxed Performance ist, sie muss auch umgesetzt werden. Viele große Theater in London benutzen schöne Wörter, um Informationen über Relaxed Performances auf ihren Webseiten zu vermitteln aber wenn ich dann schauen will, wann die nächste Relaxed Performance stattfindet, dann wird vorerst keine angeboten. Wenn Menschen wissen, dass Verhaltensregeln in Theatern Barrieren für viele Menschen darstellen, müssen wir mehr dagegen tun, um das zu verändern. Ich freue mich sehr darüber, wie das an einigen Orten funktioniert. Aber es ist immer noch so, dass Einzelne diese Haltung und Praxis voranbringen müssen und es noch keine verbindliche Herangehensweise gibt, um sicherzustellen, dass alle Zugang zur gemeinsamen Kultur haben. Öffentliche Gelder finanzieren Kunst und Kultur und daher sollte sie einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.  >sausage!< 

Veranstaltungsorte und Theaterensembles müssen endlich ihre Verantwortung erkennen das voranzubringen, statt es nur ab und zu mal für eine Weihnachtsperformance einzusetzen, weil es sich nett anfühlt. Es muss aufhören, ein Akt der Wohltätigkeit zu sein und anfangen eine Gleichstellungsmaßnahme zu werden. >hedgehog, fuck<

 

Carolin Huth: Welche Voraussetzungen oder Einflüsse haben deine Entwicklung als Künstlerin unterstützt und deine Berufslaufbahn positiv beeinflusst?

 

Jess Thom: Von „Unlimited“ gefördert und unterstützt zu werden, war wichtig. „Unlimited“ ist ein Förderprogramm im Vereinigten Königreich, das behinderte Künstler*innen unterstützt. Der Fokus liegt dabei auf hervorragender Kunst und daher fordert das Programm viel von Künstler*innen. Aber es wird von behinderten Menschen geleitet, daher gibt es bei „Unlimited“ ein tiefgehendes Verständnis von Barrieren. Ich identifiziere mich als Künstlerin selbst stark mit der Bezeichnung „behindert“ und diese Positionierung hat auch meine künstlerische Karriere im Vereinigten Königreich bestimmt. Für mich war es sehr wichtig, Gespräche mit Personen, die bei Förderprogrammen wie „Unlimited“ arbeiten, zu führen, von ihnen unterstützt zu werden und Kontakte zu anderen Künstler*innen mit ähnlichen Erfahrungen zu knüpfen. Im Wesentlichen geht es darum, Teil einer Gruppe von behinderten Personen zu sein, die im Kulturbetrieb arbeiten und ein tiefgehendes Verständnis darüber haben, was es bedeutet, in einer nicht zugänglichen Welt zu leben. Und es ist auch wichtig, Teil einer Peergroup von Künstler*innen zu sein, die sich in unterschiedlichen Phasen ihres Berufslebens befinden, und in Bezug auf die berufliche Weiterentwicklung hoch und runter schauen zu können.

 

Unterstützung, Räume und Geld für von behinderten Künstler*innen geleitete Arbeit

Access to work” [Anmerkung der Redaktion: ein durch öffentliche Gelder gefördertes Programm] hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich als behinderte Künstlerin arbeiten konnte und weiterhin arbeiten kann, während sich mein Körper verändert. Das Social Care Funding sichert meine Existenz, aber ohne „Access to work”, das Ungleichheiten in Bezug auf Arbeitsbedingungen für mich ausgeglichen hat, wäre es schwierig gewesen.

Mit dem “Creative Case for Diversity“ hat der Arts Council auf Worte auch Taten folgen lassen. Ich hoffe, dass sie auch weiterhin Organisationen, die keinen inklusiven Ansatz verfolgen, zur Verantwortung ziehen. Mittlerweile befinden wir uns in einer Position, aus der heraus wir sagen können: Wir arbeiten nur mit Organisationen zusammen, die uns Unterstützung, Raum und Geld geben können.

“Unlimited” wurde 2012 ins Leben gerufen und hat in relativ kurzer Zeit die britische Kunstszene für behinderte Künstler*innen wesentlich verändert. Auch das Interesse von Mainstream- Veranstaltungsorten an der Kunst von behinderten Künstler*innen hat sich grundlegend gewandelt. Programmgestalter*innen begeistern sich für hervorragende Kunst, unabhängig davon, ob sie von einer behinderten oder nicht behinderten Person gemacht wurde. Ich hoffe, dass die Kunst für sich stehen kann, sobald behinderte Künstler*innen als Produzent*innen und Kunstschaffende wahrgenommen werden, die vielfältige Perspektiven mitbringen.

 

Carolin Huth: Behinderte Menschen in Deutschland werden oft in die Schublade “Sozialprojekt“ gesteckt und Mainstream-Kunstinstitutionen fühlen sich oft nicht verantwortlich für Themen rund um Behinderung, außer wenn es um Barrierefreiheit für das Publikum geht.

Halbnahe Aufnahme von Jess Thom im schwarzen Kostüm

Jess Thom bei der Diskussion nach der Vorstellung von "Not I"

Kunst ändert Haltungen

 

Jess Thom: Vor zehn Jahren war das ein Problem in Großbritannien. Darüber hätten behinderte Künstler*innen damals mit dir gesprochen. Der einzige Weg, wie sich das verändert, ist durch die künstlerische Arbeit. Kunst ändert Haltungen sehr viel überzeugender als ein Förderprogramm oder eine Person. Nachhaltige Veränderungen formen sich, wenn Menschen plötzlich ganz enthusiastisch auf ein Kunstwerk reagieren und dann auch verstehen, dass es von einer reichen Quelle kommt – es geht hier nicht um eine talentierte Person, die es geschafft hat, ihre Beeinträchtigungen zu überwinden, um ein Kunstwerk zu schaffen. Menschen werden von Systemen, Haltungen und ihrer Umwelt behindert und daher ist die Kunst, die aus diesen Erfahrungen entsteht, kraftvoll, überzeugend und wertvoll. Ich habe letztes Jahr am „No Limits“ Festival teilgenommen und mir ist auch bewusst, dass es Probleme in Deutschland gibt, die über den Kulturbetrieb hinausgehen. Ich hatte den Eindruck, dass behinderte Menschen vielleicht keinen Zugang zu selbstbestimmtem Wohnen haben oder das Haltungen in Bezug auf Behinderung paternalistischer waren – auch dem muss entgegengewirkt werden.

Menschen brauchen Raum und Zeit, um kreativ zu sein, und Unterstützung, um das umsetzen zu können. Repräsentation und sichtbare Vielfalt ist wichtig im Kulturbetrieb. Ich wusste, dass ich eine Künstlerin werden konnte, weil ich gesehen habe, wie wunderbare Künstler*innen wie Mat Fraser oder Liz Carr diese Räume besetzten.

 

Carolin Huth: Das bringt mich zu deiner künstlerischen Praxis. Was würdest du sagen, ist deine besondere Ästhetik?

 

Jess Thom: >biscuiiits!< (alle lachen). Als Ensemble schaffen wir disziplinübergreifende Kunst. Wir springen zwischen – oft auf sehr drastische Weise –unterschiedlichen Kunstformen. Wir arbeiten oft mit Humor: Unsere erste Performance war herzlich und lustig und ansprechend und zugänglich. „Not I“ unterscheidet sich davon, da es eine neurodiverse Präsentation von Samuel Becketts Stück ist, sich ein Element des Kanons herausgreift, „Mouth“ als behinderte Figur versteht und sich ihre Erfahrungen aus einer behinderten Perspektive wiederaneignet.

Die Wiederaneignung von Becketts “Mouth” als behinderter Figur

In Bezug auf unsere Ästhetik: Künstlerische Werke zu schaffen, die andere Menschen nicht behindern, ist uns wichtig und prägt unsere Ästhetik. Wir wollen das auf eine Weise machen, die kreativ und ansprechend ist und die der Kunst dient. Wir arbeiten gern mit anderen zusammen und haben auch großes Interesse daran, andere behinderte Künstler*innen miteinzubeziehen. Zunehmend interessieren wir uns für generationsübergreifende Performances, damit Austauschmöglichkeiten und gemeinsame Erfahrungen entstehen können, die über Grenzen in Bezug auf Alter, Kunstform und Zugangsbedingungen hinausreichen.>sausage!< >fuck it< >sausage<

 

Carolin Huth: In Deutschland wird Kunstinstitutionen und behinderten Künstler*innen oft vorgeworfen, dass sie eine Freak-Show unterstützen, wenn sie Kunst von behinderten Künstler*innen zeigen. Deine Kunst wird auch im Kontext von Disability Arts verstanden. Wo ziehst du die Grenze zwischen einer Freak-Show und Disability Arts?

 

Wer hat künstlerische Entscheidungsmacht und Handlungsmöglichkeiten?

Jess Thom: Der Unterschied liegt für mich darin, wer Handlungsmöglichkeiten und -macht hat. Ich bin eine Künstlerin, die Werke schafft. Ich arbeite in einem Team mit behinderten und nicht behinderten Künstler*innen und wir sind immer sehr vorsichtig, wenn es darum geht, wo die Macht verortet ist, besonders wenn es ums Lachen und um Blicke geht. Wenn die Kunst unter der Leitung von behinderten Künstler*innen entstanden ist, ist es meiner Meinung nach sehr unwahrscheinlich, dass sie sich im Bereich einer Freak-Show bewegt. Vermutlich sagt das mehr über die Nervosität des Publikums aus als über behinderte Künstler*innen, die Kunst machen. In Großbritannien gibt es zurzeit unglaubliche Künstler*innen mit Lernschwierigkeiten, die großartige Kunst über ihre Erfahrungen machen. Und auf keinen Fall könnte denen jemals vorgeworfen werden, dass sie eine Freak Show machen, da ihre kreative Kraft so präsent ist in diesen Kunstwerken. Hier geht es voll und ganz um ihre Kunst, oft unterstützt von anderen, aber im Zentrum stehen ihre kreativen Fragen. Zuschauer*innen müssen anfangen, sich damit wohlzufühlen die Körper behinderter Menschen zu sehen und diese nicht nur als Spektakel zu verstehen, auf das geschaut wird, ohne dass Menschen eine Stimme haben oder handlungsfähig sind. Wenn wir behinderte Menschen nicht in öffentlichen Räumen sehen und erst recht nicht auf unseren Bühnen oder im Fernsehen >biscuit< oder sie im Radio hören, dann sehen wir sie nur als eine Kuriosität und definieren sie anhand ihrer „Exotik“ statt ihres Talents. Zu Leuten, die sich Sorgen darüber machen ob es eine Freak-Show wird, sage ich: Guck dir nicht die Kunst an, schau dir das Publikum an. Warum sehen die das so?

Als wir mit „Not I” begonnen haben, war uns sehr klar, dass wir eine sehr stringente Performance auf die Beine stellen wollten und es nur funktionieren würde, wenn die Performance sehr gut wird. Da war das Risiko, dass Menschen mir den Kopf tätscheln würden, weil ich eine behinderte Künstlerin bin, die ein Beckett-Stück auf die Bühne bringt. Oder Leute sagen würden: „Dafür, dass sie Tourette hat, ist das Stück ganz gut.“ Nein. Wir wollten, dass diese Performance als Kunstproduktion für sich stehen kann. Und ich hoffe sehr, dass das gelungen ist.

 

Lisa Scheibner: Du hast mal erwähnt, dass für dich die Beckett Figur „Mouth“ von Anfang an ein neurodiverser Charakter war. Welche Erfahrungen hast du bei der Arbeit mit dieser Figur und dem Beckett-Text gemacht? Was hat dich angesprochen? Welchen Herausforderungen musstest du dich stellen? Ist dir irgendetwas Überraschendes begegnet?

Intro der Performance &quot;Not I&quot;. Links spricht die Gebärdensprachdolmetscherin. Rechts sitzt Jess in ihrem Rollstuhl auf der Heberampe, die sie in der Performance in die Höhe hebt. Jess ist ganz in schwarz gekleidet, auch ihr Kopf ist von einer schwarzen Kapuze bedeckt, sodass man nur ihr Gesicht sieht.

Intro der Performance "Not I"

Menschen ermöglichen, kreative Risiken einzugehen und sich dabei sicher zu fühlen

 

Jess Thom: Ich erfuhr von dem Theaterstück “Not I”, lange bevor ich eine Performancekünstlerin war und wir Touretteshero ins Leben gerufen haben. Mein Touretteshero-Kollege Matthew hat mir von „Not I” erzählt als >biscuit< meine Tics intensiver wurden und es mir schwerfiel, mich darauf einzustellen und sie als Teil von mir anzuerkennen, als etwas, was mein Gehirn produziert, oder als meine eigene Sprache wahrzunehmen. Ich war sehr verwirrt und es war eine große Herausforderung für mich und gleichzeitig war ich auch sehr fasziniert davon. Schließlich erwähnten wir „Not I” in einem Gespräch mit einem anderen Theaterensemble und unser schon lange bestehendes Interesse an dem Stück. Eine Person, die am Tisch saß, sagte: „Becketts Nachlassverwalter*innen würden Jess niemals die Erlaubnis geben ‚Not I’ zu performen“. Ich beobachtete Matthews Augen und sobald das Treffen beendet war, sagte er: „Also wie sieht’s aus mit ‚Not I‘? Ich frag mich wie das mit dem Gleichbehandlungsgesetz (Equality Act) zusammengeht“. >Biscuit< Und als ich es nochmals las, war ich verwundert darüber, wie ansprechend ich es empfand. Ich will nicht sagen, dass dies ein Stück über Tourette ist, aber es ist auf jeden Fall ein Stück über eine Person, deren Gehirn auf eine nicht-normative Weise funktioniert und die deswegen in ihrem Leben mit Barrieren konfrontiert ist. Es gibt beispielsweise Zeilen wie „ganzer Körper wie weg“ oder „Mund brennt“ oder wie sie darüber spricht angestarrt zu werden – einiges davon ist so verknüpft >biscuit< mit meinen Erfahrungen.

Ich KENNE diese Figur und ich habe sie gern und daher fühlt es sich richtig an, dass eine neurodiverse Performerin diese Rolle spielt und dass es zugänglich gemacht wird für Menschen, die sich in anderen Inszenierungen dieses Theaterstücks nicht wohl fühlen würden. Ich weiß, dass ich mir keine der bis dato existierenden Inszenierungen angeschaut hätte. Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem kreativen Risiko >biscuit<, sich etwas anzuschauen, das vielleicht interessant ist und vielleicht auch nicht, und ein Risiko einzugehen in Bezug auf ein Identitätsmerkmal, mit dem du der Gefahr ausgesetzt bist, diskriminiert zu werden. Wir wollten Annahmen darüber, was in einer Relaxed Performance möglich ist, hinterfragen. Daher haben wir das intensivste Theaterstück gewählt und es auf eine Art und Weise zugänglich gemacht, die die Intensität beibehält und gleichzeitig Menschen ermöglicht, kreative Risiken einzugehen und sich dabei sicher zu fühlen. >biscuit, hedgehog, cats<

 

Wir schaffen eine Welt für einen Typ Körper und Verstand, der eigentlich gar nicht existiert

 

Carolin Huth: Neurodiversität ist ein Begriff, der in Deutschland nicht sehr bekannt ist. Kannst du den Begriff nochmal ausführlicher erklären? Was genau bedeutet es, wenn du eine Figur als neurodivers bezeichnest? Und warum ist eine neurodiverse Person besonders passend für dieses Theaterstück oder diese Rolle?

 

Jess Thom: Körper und Verstand funktionieren bei allen Menschen unterschiedlich. Das ist nichts Neues, das ist schon immer so gewesen. Die Realität ist allerdings, dass wir eine Welt für einen bestimmten Typ von Körper und Verstand schaffen, der nicht wirklich existiert. Manche Menschen entsprechen dieser Vorstellung, viele nicht. Neurodiversität ist ein Weg, um geistige Beeinträchtigungen neu zu denken und zu verstehen. Statt eine Gruppe von Menschen zu medikalisieren, können Diagnosen wie Tourette, Legasthenie, Dyspraxie, Asperger, Autismus und andere psychische Diagnosen unterschiedliche Ausdruckformen davon sein, wie eine Person neurologisch funktioniert.

 

Mouth ist eine Figur, die ihr Leben lang quasi sprachlos ist, aber dann hat sie diese plötzlichen und ihr fremden Redeschwalle. Das weist für mich auf eine Person hin, deren Gehirn anders funktioniert. Sie stößt auch auf Barrieren, wenn andere Menschen auf sie reagieren. Beispielsweise gibt es einen ganzen Abschnitt, wo sie Einkaufen geht. Sie gibt Leuten einfach ihre Einkaufstasche und einen Einkaufszettel dazu, sie spricht aber mit niemandem. Viele Leute haben so darauf reagiert: Guck mal, wie isoliert sie ist, guck mal, wie komisch sie einkauft. Ich habe das gelesen und gesagt: Eine Person geht Einkaufen für sie! Ihre Community unterstützt ihr Leben. Es gibt Personen, die darauf achten, dass sie das bekommt, was sie braucht, und nur weil ihre Art einkaufen zu gehen anders aussieht, ist sie nicht weniger wert.

Wir haben uns nicht angeschaut, wie andere Menschen dieses Theaterstück aufgeführt haben. Wir haben uns die Regieanweisungen durchgelesen und überlegt, wie das Stück für meinen Körper und mein Gehirn funktionieren kann. Es geht darum zu verstehen, dass Körper und Geist von verschiedenen Menschen unterschiedlich funktionieren. Wir können Großartiges erreichen, aber wir müssen es nicht unbedingt auf die gleiche Art und Weise tun. Es ist sehr leicht zu sagen: so machen wir die Dinge, anstatt zu verstehen, dass wir Menschen dabei unterstützen können, ihre eigenen Wege zu finden, um erfolgreich zu sein, teilzuhaben und etwas zu verwirklichen. >sausage!<

 

Eine behinderte Person zu sein, ist ein politischer Akt

Lisa Scheibner: Die Figur „Mouth” wird oft als körperlose Stimme dargestellt und gleichzeitig ist sie sehr präsent und erfindet sich neu, während sie spricht und ständig Grenzen überschreitet; sie ist nicht aufzuhalten. Entsteht bei diesem Nichteinhalten der Regeln revolutionäres oder politisches Potenzial?

 

Jess Thom: Auf alle Fälle. Ich sage oft: Ein behinderter Mensch zu sein, ist ein politischer Akt. Mein Leben ist von Politik bestimmt; meine Arbeits- und Wohnmöglichkeiten, meine Chancen glücklich zu sein sind abhängig von politischen Entscheidungen, besonders jetzt, wo sich Großbritannien isoliert. Wir sagen ganz klar und deutlich, dass Mouth als Figur nur so isoliert ist, wie es ihre Community zulässt. Mouth hat so eine rebellische, revolutionäre Seite. Mouths Körper ist vollkommen präsent in ihren Worten: ihre Muskeln und ihr Gesicht und ihre Zunge, sie spricht über das Gefühl des Surrens in ihrem Körper. All das ist wie Verleugnung und gleichzeitige absolute Präsenz des Körpers – die Absurdität von alldem fühlt sich in der Zeit, in der wir gerade leben, auf jedem Fall relevant an. Die Botschaft, die wir von diesem Theaterstück mitnehmen, handelt nicht von Isolation, sondern von Unterstützung, der Notwendigkeit von Gemeinschaft und der Verantwortung, Räume, Systeme, Gesellschaften und Netzwerke zu schaffen, die nicht behindern, sondern die die Kraft von Diversität und Differenz erkennen. Unsere Vorstellung endet mit einer Einladung an das Publikum, gemeinsam Lärm zu machen, um Solidarität mit Mouth zu zeigen. Alle zur gleichen Zeit, aber alle anders. Ich denke, letztlich geht es darum, in unserer Welt und in unseren Communities Raum für Differenz zu schaffen. Wir Menschen sollen unsere Ziele erreichen können, ohne dass wir uns dabei gegenseitig eingrenzen. >bees!<